Die unwillige Glücksfee

Für drei junge Feen ist es an der Zeit ihre Aufnahmeprüfung abzulegen und nur wer sie besteht, darf auch fortan die Wünsche der Menschen erfüllen und sich eine Glücksfee nennen. Bei einer Tasse Cappuccino mit Zimt und Stracciatella-Geschmack eruieren die drei Nachwuchskräfte ihre Chancen.

„Ich habe einen Straßenbettler zum millionenschweren Unternehmer, glücklichen Ehemann und liebenden Vater gemacht!“, verkündet die erste Fee mitsamt Stolz. „Zuvor war er quasi ein Nichts und nun besitzt er all das, was er sich immer gewünscht hat.“

„Gut gemacht!“, lobt die zweite Fee anerkennend. „Dank mir kann eine Frau, welche an den Rollstuhl gefesselt war, wieder laufen, gibt sogar Tanzstunden und reist in jeder freien Minute um die Welt!“

„Wie anrührend!“, schwelgt die erste Fee begeistert. „Ich freue mich schon sehr darauf, viele weitere Menschen glücklich zu machen. Es ist ein so herrliches Gefühl!“

Die dritte Fee nippt verlegen an ihrem Cappuccino.

„Wie ist es denn bei dir gelaufen?“, erfragt die zweite Fee neugierig. „Was für drei Wünsche hast du deinem Prüfungsmenschen erfüllt?“
„Ja – los erzähl!“, fordert die erste Fee ingleichen wissbegierig.

„Ok“, entgegnet die dritte Fee zögerlich. „Als ersten Wunsch habe ich ihm ein anheimelndes Strandhaus errichtet.“
Die beiden Feen lächeln zufrieden.
„Und als zweiten?“, erklingt es wibbelig im Chor.
„Nun ja, sein zweiter Wunsch war, die Frau seiner Begierde in ihn verliebt zu machen.“
„Wie romantisch!“, zeigt sich die erste Fee erfreut. „Wie schön, dass noch Männer existieren, die Liebe ersehnen!“
„Klasse!“, pflichtet die zweite Fee bei, ehe sie erwartungsvoll den dritten Wunsch erfragt. „Was hat sich dieser ehrenhafte Mann als Letztes gewünscht?“

Die dritte Fee zögert. Sie trinkt einen großen Schluck ihres Cappuccinos und blickt sodann nachdenklich in die weite Ferne des Himmels. Indessen fordern die anderen beiden Feen ungeduldig nach der Auflösung.
„Als drittes hat er sich gewünscht, dass ich die Erfüllung der ersten beiden Wünsche rückgängig mache.“

Die erste und zweite Fee blicken einander irritiert an.
„Diesen Wunsch hast du ihm aber nicht erfüllt, oder etwa doch?“, durchbricht die erste Fee beklommenes Schweigen.
„Selbstredend!“, lächelt die dritte Fee.
„Aber wir müssen doch mit Bedacht, Moral und Verstand entscheiden, welchen Wünschen wir nachgeben und welchen nicht!“, interveniert die zweite Fee verstört.
„Du wirst die Prüfung nicht bestehen!“, mutmaßt die erste Fee, derweil sie einen Keks isst. „Wir dürfen ja auch niemanden sterben lassen, nur weil sich ein Mensch das wünscht!“
Zustimmend nickt die zweite Fee der ersten zu.
„Sie hat Recht – das hättest du nicht tun dürfen!“
„Ich empfand Empathie für diesen Mann!“
„Inwiefern?“, erklingt es einstimmig.
„Nun ja, er wollte die Dinge, die ich ihm erfüllt hatte, lieber selbst erreichen.“

Abermals waltet Schweigen, wiederum begleitet von Beklommenheit.
„Er wollte sich das Strandhaus selbst erarbeiten und diese eine Frau wollte er nur, wenn sie das unsichtbare Band der Liebe zwischen ihnen desgleichen spürte und sie von sich aus bereit war, es mit derselben Ehrfurcht zu behandeln.“
„Eigenartiger Mensch!“, schüttelt die erste Fee ungläubig den Kopf, ehe sie fortfährt. „Ich denke nicht, dass du fortan eine Glücksfee sein darfst…“

Einen Tag später müssen die drei Feen ihre Prüfungsergebnisse dem Komitee vortragen. Die erste und zweite Fee erhaschen großes Lob, und dann ist die dritte an der Reihe. Ehe einer der Richter das Urteil verkündet, stecken sie die Köpfe beisammen und diskutieren eine Weile. Alsbald ist es soweit. Der oberste Richter schlägt mit seinem Hammer.
„Herzlichen Glückwunsch!“, tönt er samt Enthusiasmus. „Du hast diese Prüfung mit Bravour gemeistert! Als Allerbeste!“
Die erste und zweite Fee stutzen überrascht, doch zugleich erleichtert, weil sie die dritte Fee sehr mögen und sich für sie freuen.

„Eure Aufgabe ist es, die Menschen glücklich zu machen – unter Berücksichtigung dienlicher, moralischer und empathischer Grundsätze. Du hast diesen Mann zu einem sehr glücklichen gemacht! Deine Entscheidung war riskant, aber überdies ausgesprochen feinsinnig! Hiermit ernenne ich dich hochoffiziell zu einer Glücksfee!“
Freudig fallen die erste und zweite Fee der dritten um den Hals, doch aufrichtige Freude will sich bei letzterer nicht ausbreiten.

„Hast du meine Worte nicht verstanden, dritte Fee?“, fragt der Richter verdutzt.
„Doch…“, druckst die frisch gekürte Glücksfee zögerlich, „…und sie ehren mich sehr!“
„Weshalb bist du dann nur so traurig, dritte Fee?“
„Euer Ehren, bitte versteht das nicht falsch! Ich finde es toll, dass es Glücksfeen gibt und ich denke, dass sie sehr wichtig, nützlich und hilfreich sind…“
Eine kurze Atempause waltet ihres Amtes, in welcher die dritte Fee Mut zusammennimmt.
„Es ist nur so, ich möchte eigentlich gar keine Glücksfee sein!“

Niemand sagt ein Wort und so ergreift es die unwillige Glücksfee neuerlich.
„Viel lieber würde ich neue, außergewöhnliche und detailverliebte Feenkleider schneidern!“
Die Reaktionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Stimmengewirr erklingt und es dauert eine Weile, ehe es verebbt.
„Die allererste Kreation wird aus Samt sein!“
Und dann kramt die unwillige Glücksfee Nadel und Faden aus der Tasche und fliegt beseelt ihres Weges.